Wenn ich Euch verraten könnte
by Lea Draeger

Über die Strafe der Mutter Magda Märtyrerin und den Seelenkrebs

Die Strafe der Mutter Magda Märtyrerin ist die des Giftes. Sie hat die Strafe aus ihrem Körper in den Körper meiner Mutter und in meinen Körper gespritzt.
Mit ihrem Schmerzenslächeln hat Mutter Magda Märtyrerin zugeschaut, wie das Gift in den Körper meiner Mutter dringt. Es ist ins Herz meiner Mutter gedrungen, in ihre Lunge, in ihre Leber. Es ist in ihre Augen, in ihre Ohren gewandert und hat alles, was sie gesehen und gehört hat, vergiftet. Von meiner Mutter ist das Gift in mich gewandert und hat meine Organe verkümmern lassen. Ich stamme aus der giftigen Eizelle meiner Mutter, die aus der giftigen Eizelle meiner Großmutter entstanden ist. Wir stehen in einer Reihe sich gleichender Schwestern, die sich gegenseitig am Leben erhalten. Liebe Mutter Magda Märtyrerin. Wenn ich euch verraten könnte, das wäre schön. Ich schreibe den Satz in mein kariertes Buch. Meine Mutter wird nicht kommen. Ehe ich ins Krankenhaus gebracht wurde, habe ich monatelang nicht mehr gegessen. Ich habe nicht aufgehört zu essen, weil ich meinen Körper verschönern wollte. Ich hatte einen schönen Körper. Ich habe mich einfach verweigert. Mein Hunger ist ein Hungerstreik. Der Schlauch in meiner Nase, die Medikamente, die mich in den Schlaf versetzen, haben den Streik beendet. Vielleicht war es auch nur ein halbherziger Versuch. Vielleicht fehlt mir der Wille der Mutter Magda Märtyrerin und ihrer Heiliginnen, die mit ihrem Schmerzenslächeln auf mich hinabblicken.

all images:
Ökonomische Päpste und Päpstinnen [Economical Popes], 2015–2021
Ballpoint pen, lacquer on transparent paper on paper in clip frame
each 14,8 x 10,5 cm


Auf der Karteikarte, die im Zimmer des Arztes liegt, stehen die Diagnosen, die mich hier festhalten. Ich bin funktionsgestört. Die Ärzte arbeiten daran, das zu beheben. Ich habe eine ganze Handvoll Störungen: Ich bin essgestört, verhaltensgestört, emotional gestört und entwicklungsgestört. Und es ist abzusehen, dass bald auch meine Persönlichkeit gestört ist. Erst Kinder über sechzehn bekommen diese Diagnose. Ich bin dreizehn Jahre. Ich habe noch keine Persönlichkeit. Meine innere Diagnose ist eine sehr schmerzhafte. Die Erwachsenen hier kennen diese Diagnose nicht. Sie suchen auch nicht nach ihr. Ich glaube, es ist eine Diagnose, die sie nicht interessiert, da sie sie nicht diagnostizieren können. Meine Seele hat Krebs. Oder eher noch hat meine verloren gegangene Seele Krebs. Ich habe nie an eine Seele geglaubt und nie eine Seele entwickelt. Aber die Seele, die mir verloren ging, bevor ich an sie glauben konnte: Die hat Krebs. Es ist eine Zersetzung der Sehnsucht, die aus dem Verlust resultiert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich unter dem Seelenkrebs meiner nie da gewesenen Seele zerfalle. Neben der Heimat, die uns verraten hat, sprach meine Großmutter ständig von der Seele: »Das Wichtigste an einem Menschen ist seine Säääle. Und der Glaube an diese Säääle. Ja, der Glaube!«
Meine Großmutter sprach so oft vom Glauben. Sie zerkaute ihren Glauben zu einem Kaugummiglauben, der ihren Körper mit dem des Vaters und der Töchter zu einem Klumpen verklebte. Es ist eine Sterbezelle, die sich gegenseitig beatmet und am Leben hält. Ich gehöre nicht zu diesem Klumpen. Ich gehöre mir. Es ist lächerlich, was ich denke, während im Krankenhaus ein neuer Körper fremd um mich gewachsen ist. Vierzehn schnelle Kilogramm. Vierzehn schlaffe Kilogramm. Mir gelingt es nicht, mich mit diesem Körper anzufreunden, geschweige denn, mich in ihm zu Hause zu fühlen. Manchmal hängt er taub an mir hinunter, um sich gleich darauf vor Spannung zu zerreißen. Mein Körper lässt mich nicht zu sich herein. Ich bin eine Fremde, die er nicht aufnehmen will. Wir versuchen uns zu dulden. Mir bleibt nichts anderes übrig. Irgendwo muss ich ja hin. Es muss schön sein, in Frieden in einem Körper zu leben.

Über das Urteil

Der Vater, mein Großvater, redete nicht über meine Mutter. Er schwieg sie tot. Meine Großmutter war die, die meine Mutter mit ihren Worten richtete.
Der Vater half, das Urteil zu vollstrecken, indem er es geschehen ließ. Mutter Magda Märtyrerin richtete oft. Ihr Urteil kam plötzlich.
Wir versanken in der braunen Sofagarnitur, während wir Apfelstrudel aßen. Jeden Sonntag gingen meine Eltern, meine Schwester und ich zu meiner Großmutter zum Mittagessen. In der Küche gab es Suppe und Braten, im Wohnzimmer den Nachtisch. Der Apfelstrudel schmeckte nach Zimt und Rosinen und nicht zu süßen Apfelstücken. Er schmeckte nach der Herkunft meiner Mutter. Ich aß noch ein zweites Stück Strudel, um den Geschmack meiner Mutter nicht zu verlieren. Das dritte Stück, das ich mir auftun wollte, legte meine Mutter wieder zurück auf die Platte.
Meine Mutter saß rechts von mir auf dem durchgesessenen Sofa. Mein Vater und meine Schwester auf den Sesseln. Meine Großmutter ruhte in ihrem orthopädischen Sessel, den sie mit einer Fernbedienung zu einem Schlafsessel verstellen konnte. Es war ihr liebster Platz. Vom Sessel schaute sie in den Fernseher oder hinauf zu ihren Heiliginnen und noch weiter hoch zum Papst, der in der obersten Reihe des Regals stand. In seinem Wechselrahmen lehnte er aufrecht an der Wand.

Meine Großmutter schnitt einmal pro Jahr ein aktuelles Bild des Papstes aus der Kirchenzeitung und tauschte es gegen das alte Bild in ihrem Wechselrahmen. Der Papst wechselte. Und das Bild auch. Der Rahmen aber blieb gleich. Während die Reihe der Heiliginnen unter dem Papst immer länger wurde, blieb der Papst über ihnen allein. Der gegenwärtige Papst saß auf seinem Sessel im Papamobil. Der Kopf hing ihm auf die Brust. Den rechten Arm, zum schlaffen Gruß erhoben. Der Papst war alt und aufgedunsen. Er ähnelte unserer Nachbarin, deren fleischiges Gesicht hinter der Gardine hing, wenn wir die Häuserreihe entlanggingen. Vom Sofa schaute ich zu den Heiliginnen und zum Papst hinauf. Der Blick des Papstes fuhr über den Kopf meiner Großmutter in die Tapetenwand. Die Heiliginnen hatten ihre Augen zu seinem Regalbrett über ihren Köpfen gedreht. Die Stimme meiner Großmutter holte mich zurück an den Sofatisch.
Meine Tochter war schon immer eine Nutte. Mich wundert es, dass du sie erst jetzt verlässt, sagte sie zu meinem Vater. Mein Vater schaute von seinem Apfelstrudel auf. Meine Mutter aß weiter. Dann aß auch mein Vater weiter.

Über die Sterbereihen

“Jetzt machen wir es uns richtig schön”, sagte meine Tante Tanja. Sie hatte sich für die letzten Tage meiner Großmutter eine Woche Urlaub genommen und war zu uns in die Stadt gekommen. Meine Tante lief vom Bett zum Tisch, vom Tisch zum Bett und vom Bett zum Wandschrank. Sie nahm den Stapel Nachthemden heraus und packte ihn in die Reisetasche neben dem Tisch. Sie setzte sich auf die Bettkante, um kurz darauf wieder aufzustehen und den Stapel Hemden aus der Tasche zu holen. Sie legte ihn auf den Tisch, ergriff das oberste Hemd an den Zipfeln und schüttelte es aus. Danach legte sie es ausgebreitet neben den Stapel und rollte es zusammen.

Das eingerollte Hemd packte sie zurück in die Reisetasche. So arbeitete sie sich von Hemd zu Hemd durch den Stapel. Sie schüttelte die Hemden heftig und rollte sie schnell. Mit ihren ein Meter zweiundachtzig und ihrem runden Gesicht war meine Tante ein Riesenrumpelstilzchenbaby, das von einem Bein auf das andere sprang, während es die Hemden meiner sterbenden Großmutter schüttelte.
Wir brachten Mutter Magda Märtyrerin direkt in ein Sterbehaus. Sie hatte dort ein eigenes Zimmer im Erdgeschoss. Durch eine Glastür gelangten wir auf die Terrasse. In ein zweites Zimmer nebenan zogen meine Mutter und meine Tante. Es waren helle Zimmer mit bunten Vorhängen. Die Schwester sagte, dass wir auch Bilder an die Wände hängen könnten. In der Wohnung meiner Großmutter suchte meine Mutter frische Unterwäsche, Nachthemden und einen Bademantel zusammen. Auf die Kleidung legte ich die Postkarten der Heiliginnen. Auch die Maria des Vaters und ein kleines Holzkreuz aus der Küche nahm ich mit zu meiner Großmutter ins Sterbehaus.
Den Papst in seinem Wechselrahmen ließ ich oben im Regal. Ich wollte nicht, dass das Letzte, was Mutter Magda Märtyrerin von ihrem Sterbebett aus sähe, sein altes, aufgeblähtes Männergesicht war. An die Wand über demSterbebett hängte ich die achtundsiebzig Postkarten mit den Heiliginnen. Das Holzkreuz legte ich auf den
Nachttisch neben die heilige Maria.

Mutter Magda Märtyrerin fragte: “Hast du den Papst mitgebracht?” 
 ”Den habe ich vergessen”, sagte ich. Ich log schlecht. Ich schaute zu Boden, spürte, wie mein Kopf rot anlief.
Mutter Magda Märtyrerin lächelte ihr neues Lächeln, ein mildes Lächeln, das sich nicht mehr im Schmerz verzog. Ihr spätes, neues Glück lief ihr mit der Morphiumpumpe bis ins Gesicht.
Die ersten Tage öffnete meine Mutter die Tür und brachte meine Großmutter hinaus auf die Terrasse. In ihren Bademantel eingemummt saß sie im Rollstuhl und schaute auf eine quadratische Wiese. Eine Handvoll Sterbender reihte sich vor der grünen Fläche. Sie saßen in Rollstühlen oder auf Holzstühlen. Manche hatten Besuch, andere waren allein. Es war unverkennbar, wer dabei war zu sterben und wer zu Besuch bei den Sterbenden war. Die Sterbenden kannten kein Maß. Ihre Gesichter und Körper waren entweder abgemagert oder aufgebläht. Die Abgemagerten hatten eingefallene Wangen, große Nasen und riesige Ohren.
Ihre Augen lagen in tiefen Kuhlen. Ihre Arme und Beine hingen dürr an den knöchrigen Körpern hinunter. Ihre Bewegungen waren langsam und schwankend. Auch die Aufgedunsenen bewegten sich langsam und schwankend. Nur hatte sich ihr Körper zu einem massigen Ballon aufgebläht. Die Nase schwamm über in die Wangen. Die Wangen verschluckten die winzigen Ohren. Ihre Haut war fahl oder gelb, je nachdem, ob die Leber sich bereits auflöste und ihr Blut vergiftete. Das Sterben zeichnete sich in die alten und in die jungen Körper. Es ließ sich zwar noch erkennen, ob es sich um einen jungen oder um einen alten Menschen handelte. Aber es änderte nichts.
Meine Großmutter gehörte zu der Kategorie der abgemagerten Sterbenden. Innerhalb kurzer Zeit hatte ihr der Krebs das Fleisch aus dem Gesicht und aus dem Körper gefressen. Ihre Wangen traten hervor, die Nase wurde spitz, die Ohren groß. Ihre Beine hingen dürr und krumm von der Bettkante. Den dünnen Armen fehlte die Kraft, sich aufzustützen.
Meine Mutter hob sie vom Bett. Sie nahm sie ganz allein unter den Armen und den Knien. Meine Großmutter war so leicht wie ein Kind. Sie hatte auch ihre weiblichen Formen verloren. Die Brüste hingen als eingetrocknete Schläuche auf den Bauch, ihr Po bestand aus zwei schlaffen Hautfetzen. Einzig der Bauch war rund und aufgebläht. Und die Narbe auf ihrem Unterleib, die der Chefarzt geschnitten hatte, blieb rot. Es war keine Zeit mehr zum Verblassen.
Meine Großmutter saß auf ihrer Terrasse und nippte an einem Glas Sekt. Sie konnte sich die Gerichte wünschen, die sie gerne essen wollte. Manchmal schaffte sie es, ein paar Löffel zu sich zu nehmen, ehe sie das Essen in eine Plastikschale erbrach.